Größenwahn, Mama
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Kinder, Bilder, Flut

Emma hat jetzt einen Youtube-Channel. Nora nicht. Foto: Julia Marre

Wer in einer Zeit groß wird, in der Eltern auf ihrer Wetter-App nachsehen, ob vor dem Fenster die Sonne scheint, der hat es nicht leicht. Wer in dieser Zeit noch klein ist, der hat es noch viel schwerer. Denn er kann sich nicht wehren. Er wird nicht gefragt, ob er für Fotos und Filmchen immer posieren möchte.


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Und ob es okay ist, wenn jeder Satz als Audiodatei mitgeschnitten und digital verbreitet wird. Und in zehn Jahren fragen unsere Kinder dann, warum sie schon Social-Media-Kanäle überschwemmt haben, lange bevor sie das Wort aussprechen konnten.

Erschreckend viele Kinder haben einen eigenen Youtube-Channel

„Schaut mal, Emma kann jetzt mit dem Dreirad fahren!“ lese ich bei Whats-App, nur um dann einem Link zu Emmas Youtube-Channel zu folgen. Da sieht man auch, wie Emma auf dem Schlitten festgeschnallt einen kleinen Hügel heruntersaust. Wie sie das allererste Mal am Strand sitzt. Wie sie in einer riesigen Badewanne voller Schaum hockt und das Badezimmer unter Wasser setzt. „Ich wusste gar nicht, dass Emma einen eigenen Youtube-Channel hat“, sage ich meiner Freundin beim nächsten Treffen. „Du, ich auch nicht“, sagt sie. „Das hat Björn eingerichtet. Cool, was?“ Ich ziehe eine Grimasse. Bei dem Thema kriege ich nicht einmal eine Notlüge hin. „Finde ich nicht“, sage ich deshalb. Und spule mal schnell die Kurzversion meines Lieblingsreferats über Datenschutz und Persönlichkeitsrechte ab. Meine These: Man muss seine Kinder manchmal vor dem elterlichen Enthusiasmus in Schutz nehmen. Und: Auch Zweijährige sollten eine Art „Recht am eigenen Bild“ haben. Auch wenn sie zu jung zum Klagen sind. Wenn schon online überall Fotos von ihnen zu sehen sind, dann bitte ohne Gesicht. „Und wie erklärt sie ihrem zukünftigen Chef in 18 Jahren, warum es aus ihrer Kindheit Nacktvideos aus der Badewanne gibt, die alle neuen Kollegen schon längst verschlungen haben?!“ – „So habe ich das noch gar nicht gesehen“, sagt meine Freundin. Das ist nun ein paar Wochen her. Und trotzdem gibt es Emmas Youtube-Channel noch heute.

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Überhaupt: Whats-App-Profilbilder allein sind ja schon das offene Fenster in ein fremdes Kinderzimmer. Bei Studienfreundinnen sehe ich so immer gleich, dass sie noch weitere Kinder bekommen haben: Wenn wieder ein neues Babyfoto in meiner Kontaktliste erscheint. Und tatsächlich: Schon so manchen Kindergeburtstag hätte ich vergessen, wäre da nicht bei Whats-App wieder ein neues Profilbild mit einer „3“-Kerze zu sehen oder ein Wohnzimmer voller Luftballons. Aber: Wollen die Kinder das denn auch? Oder würden sie es wollen, wenn sie schon entscheiden könnten?

Polaroidkameras beim Mutter-Kind-Treff

„Darum geht’s doch gar nicht“, sagt meine Freundin, die ihr Facebook-Profilbild – das ihren Sohn Moritz zeigt – übrigens täglich wechselt. „Unsere Großeltern wohnen alle so weit weg. Die kriegen doch sonst gar nichts mit von Moritz!“ Ist das ein Argument für ein gläsernes Kind? Bei Moritz zuhause äußert sich der digitale Wahnsinn immer auf eine noch ganz andere Art. Jedes Mal, wenn wir dort zu Besuch sind, wird von uns ein Haufen Smartphone-Fotos geschossen. Beim Spielen. Beim Kuchenessen. Beim Puzzeln. Beim Rutschen im Garten. Im Bällebad. Im Sandkasten. Nur damit Moritz‘ digitalspielzeugaffiner Papa dann kurz vor der Verabschiedung mal eben ins Arbeitszimmer verschwindet. Dort hört man technischen Schnickschnack ritschen und ratschen, während er per Bluetooth mit dem kleinen Fotodrucker zack-zack für jeden drei Fotos ausdruckt. So ungefähr muss es sich für meine Mutter angefühlt haben, als in den 1980ern die topmodernen Polaroidkameras beim Mutter-Kind-Treff die Runde machten.

Kaffeekränzchen per Skype-Chat

Und Felix? Der kann bei unserem Treffen zwar nicht dabei sein. Aber es gibt ja Skype. Also schalten seine Mama und er sich mal eben per Videochat zu unserem Kaffeekränzchen. Es interessiert Felix zwar nicht die Bohne, wer da aus dem Tablet winkt und ihn auffordert, doch mal für uns „Alle meine Entchen“ zu singen, was er neuerdings angeblich so gut kann. Aber seiner Mama macht’s einen Riesenspaß. Und wir schaulustigen Mütter gaffen auf verzerrte Bilder, die zeitversetzt zu sehen sind, immer mal wieder unterbrochen werden. Stimmen setzen aus. Störungsgeräusche kommen dazu. Moritz versucht, Felix durchs Tablet einen Bagger zu geben. Emma und Nora stehen daneben und lachen. Emma fragt: „Was machst Du denn da, Moritz?“

Und ich frage dasselbe: „Was machen wir denn hier eigentlich?“ Irritierte Gesichter schauen mich an. „Na, ich meine: Ist das nicht komisch, was wir hier für eine digitalisierte Wunderwelt zelebrieren?“ Emmas Mama nickt. „Ein bisschen skurril ist das schon, ja. War ohne die Dinger irgendwie entspannter.“ Wir verabschieden uns von Felix‘ Mutter und winken alle nochmal dem Tablet zu. Moritz fährt mit seinem Bagger wieder übers Sofa. Und seine Mutter legt den Arm um mich: „Freu Dich doch, Jule: Das kannst Du alles für Deinen Blog verwerten!“ Stimmt auch wieder. Und dann lehne ich mich erleichtert zurück, weil die Kinderfotos meiner Tochter nur auf einer passwortgeschützten Cloud durch die digitale Welt schweben.

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