Die Zeit ist eine komische Eule. Ich habe immer gedacht: Wenn ich Mutter bin, absolviere ich einen Marathon im Windelwechseln und Füttern, im Breikochen und Wäschewaschen. Mache ich ja auch. Aber nebenbei irgendwie. Hauptberuflich nämlich genieße ich die Zeit, die ich bis vor wenigen Monaten noch in sauerstoffarmen Büros verbracht und gar nicht als so viel wahrgenommen habe.
Das Genießen sieht so aus: Zwei einsame Wolken schleichen sich an der Sonne vorbei. Möwen planschen im Wasser. Enten tauchen. Schmetterlinge spielen Fangen. Und mittendrin sitze ich: die Füße hochgelegt, ein gutes Buch auf den Knien. Eine Sonnenbrille, Sommersprossen und ein Lächeln im Gesicht. Neben mir im Kinderwagen ein tief schlafendes kleines Mädchen, das sich von nichts und niemandem stören lassen möchte.
Zugewucherte Bänke im Park und verwunschene Orte am See, den besten Platz im Biergarten und den gemütlichen Strandkorb im Café habe ich so kennengelernt. Ich kann gar nicht zählen, wie viele heiße Sommernachmittage, immer noch warme Spätsommernachmittage und auch noch sonnige Herbstnachmittage ich so verbracht habe. Lesend. Dösend. Beobachtend. Träumend. Wartend – darauf, dass Nora noch ein Weilchen weiterschläft, und darauf, dass Nora allmählich aufwacht.
Fast immer, wenn sie die Augen aufschlägt, geht unser Mutter-Tochter-Entschleunigungsprogramm nämlich weiter. Wir füttern Enten und beobachten, welcher Erpel diesmal am zutraulichsten ist. Wir bleiben inmitten hastender Menschengruppen einfach stehen und schauen Tauben zu. Wir sitzen unterm Baum und sehen den Blättern im Wind zu. Wir verfolgen Schatten auf dem Rasen und pflücken und zerrupfen Gänseblümchen. Wir ziehen mit dem Finger den Landeanflug einer Biene nach. Wir schieben über holprige Laubpisten und sammeln Kastanien.
Nur eine stille Vereinbarung haben wir getroffen, damit diese Downshifting-Idylle auch eine bleibt: Wir machen uns keine Vorwürfe für die vielen Überstunden, die mein neuer Job bringt. Keine Vorhaltungen für manch schlaflose und durchbrüllte Nacht. Und schon gar nicht für die zähflüssigen Stunden, die ich nachts im Kinderzimmer stehe und singe und gähne und friere und singe und gähne und friere. Dann, wenn ich im Drei-Minuten-Takt auf die Uhr schiele, denke ich nämlich auch im Drei-Minuten-Takt: Die Zeit, die ist schon eine komische Eule.