Munter klappern die Kuchengabeln auf den Tellern. Der frische Apfelkuchen aus dem „Halligkrog“ der nordfrisischen Hallig Nordstrandischmoor ist schnell verputzt. Die Sonne schaut hungrig zu und lauscht den Gesprächen der wenigen Tagesgäste, die drüben auf dem Hügel angekommen sind. Auf die nordfriesische Hallig Nordstrandischmoor hat es sie verschlagen.
Hier, auf der Niewarft im Westen der Marschinsel, sitzt Hilde Erichsen mit ein paar Wattwanderern unter den Sonnenschirmen der Gaststätte und macht eine Pause. Eine Kaffeepause. Und eine Zwangspause. „Wir haben Ostwind“, erklärt die ehemalige Nationalparkführerin, die Gästen ihrer Ferienwohnungen Wanderungen nach Nordstrandischmoor anbietet. „Das Wasser läuft dadurch zwar auf, ist aber 30 Zentimeter niedriger als normal.“ Das Schiff, das die Tagesgäste am Anleger der Hallig wieder abholen soll, kommt heute daher später. Also erteilt Erichsen den Wanderern eine gemütliche Lektion in dem, was hier ohnehin lebenswichtig ist: abwarten, Pharisäer trinken und die Natur genießen. Das Leben und der Tagesablauf auf Nordstrandischmoor richten sich nämlich nur nach einem: den Gezeiten.
Schon für die Anreise gilt ein Zauberwort: Tideabhängig heißt es. Denn die Ausflugsschiffe fahren die Hallig nicht täglich an und starten jedes Mal zu einer anderen Zeit. Wie es Flut und Ebbe eben wollen. Manchmal geht es um 10.15 Uhr los, manchmal erst um 13 Uhr. Ist das Wasser zu hoch, kommt ohnehin niemand auf das 175 Hektar große Eiland mitten im Meer. Ist es zu niedrig, verbinden nur die kleinen mit Diesel betriebenen Waggons die Hallig über den Lorendamm mit dem Beltringharder Koog, dem Festland. Die allerschönste Möglichkeit aber, nach Nordstrandischmoor zu gelangen, ist die durchs Wattenmeer. Zu Fuß. Bei Ebbe. Wer seine Socken und Schuhe kurz hinter dem Deich von Lüttmoorsiel in den Rucksack sperrt, wird einen nahezu zweistündigen geführten Spaziergang erleben, der sich schon wie ein ganzer Urlaub anfühlt. Inklusive Sonnenbad, unterhaltsamem Biologieunterricht und Quiz in Sachen Fußspuren. Denn der Vogel, der hier kurz vor Hilde Erichsen und ihrer Gruppe langgewatschelt ist, scheint auf ganz schön großem Fuß zu leben. Nur zu wem gehört dieser Abdruck im Watt: zu einem Löffler? Zu einem Austernfischer? Oder einem Säbelschnäbler? Eine Silbermöwe fliegt vorüber und kreischt kurz, als wolle sie die rätselnden Wanderern verspotten. Und wie war das nochmal mit den Wattwürmern: Sind das etwa die Kringel, über die alle barfuß laufen? Oder ist das nur der Sand, den die Würmer aus ihren Tunneln hochgebuddelt haben? Oder war das etwa Wattwurmkot? Der matschige Sand klebt an den braungebrannten Händen der Nationalparkführerin. Mal hebt sie einen strampelnden Krebs auf, mal ein leeres Schneckenhaus. Mal buddelt sie mit den Fingern, bis der dunkle Schlick zu sehen ist, mal deutet sie auf Vogelspuren.
Still ist es hier draußen, irgendwo im Nirgendwo. Im Hintergrund schimpfen Austernfischer über die schlickfüßigen Eindringlinge, die im Gänsemarsch durch das fremde Territorium waten. Nicht nur die Haare der Wanderer sind verstrubbelt, sogar die wenigen Wolken hat der Wind zerzaust. Das Grün der Rasenhügel leuchtet so satt, als wäre es eine wundersame Oase, die sich im Braungrau des Wattenmeeres versteckt. Je mehr das Festland am Horizont schrumpft, desto näher kommen die fünf Warften der Hallig. Auf Nordstrandischmoor leben zurzeit 24 Menschen – der jüngste Bewohner ist gerade mal drei Monate alt, der älteste 88 Jahre. Außerdem gibt es unter ihnen vier Schüler, die von einem Lehrer in einer der wohl kleinsten Schulen Deutschlands unterrichtet werden: auf der Amalienwarft. Die nicht-schulpflichtigen Kinder der Hallig können hier für ein Jahr die Vorschule besuchen. Während viele kleine Orte in Norddeutschland über Schulschließungen klagen, genießen die Kinder auf den Halligen gesetzliche Ausnahmeregelungen. „Solange nur ein Schüler auf einer Hallig wohnt, hat er das Recht, auch hier unterrichtet zu werden“, erklärt Ruth Hartwig-Kruse, die selbst Mutter schulpflichtiger Kinder ist und auf Nordstrandischmoor lebt. Genauer gesagt: auf der Norderwarft, ganz im Nordwesten der Hallig.
Die Warften mit ihren Wohnhäusern sind das einzige, das bei Hochwasser noch aus dem Meer ragt. Und bei Sturmflut können sie schon einmal nahezu verschwinden. Wer es gern derart dramatisch mag, der wird auf der Niewarft fündig: Die Scheune der Familie Glienke ist nämlich ein umfunktionierter Kinosaal. Angenehm kühl ist es hier. Zwischen den urigen Exponaten aus der Hallighistorie läuft ein Kurzfilm, der von den Sturmfluten erzählt. Ein Action-Doku-Drama. Im Winter übernimmt nämlich das Wetter mit Landunter und Sturmfluten die Regie. „Das ist kein Grund zur Sorge, jedes Haus hier hat einen Bunker im ersten Stock, der vor Sturmflut schützt“, sagt Ruth Hartwig-Kruse. Der alte Deutz-Traktor ihrer Familie verschnauft erst einmal. Er hat gerade die Wiesen gemäht. Hoch stapeln sich die eingepackten Ballen Heu an der Backsteinwand. Den wenigen Schafen, die Nordstrandischmoor nicht im November über den Lorendamm verlassen, sondern hier überwintern, dient das Heu als Futter. Die anderen Schafe, die nur von Mai bis November auf der Hallig sind, nennen die Bewohner „Pensionsschafe“. Denn den Winter verbringen die Tiere auf dem Festland.
Zurück ins Scheunenkino, wo aus dem Actionfilm eine Liebeserklärung wird. Warum die Halligbewohner ihr grünes Paradies als „Traum im Meer“ bezeichnen? Weil sich im Herbst die Salzwiesen ganz in Gelbtönen zeigen, über die die Stürme hinwegfegen. Weil der Halligflieder die Wiesen im Sommer für kurze Zeit violett färbt, die Hallig wird ein Farbklecks im Meer. Weil sich hier diverse Naturspektakel beobachten lassen: Im Frühjahr urlauben Schwärme von Zugvögeln auf den Wiesen; rund 6500 Ringelgänse und 5000 Nonnengänse sind dann zu Besuch. Lämmer tollen über den einzigen asphaltieren Weg, den die Halligbewohner „Straße“ nennen, obwohl hier auf drei Kilometern Länge nur wenige Traktoren und Zweiräder fahren.
Strahlend gelb leuchtet in der prallen Sonne nur einer auf Nordstrandischmoor: der einzige Briefkasten. Er bekommt wenig Nahrung. Viel hat der Postbote hier, draußen im Wattenmeer, nicht zu tun. Die nächste Leerung ist – natürlich – tideabhängig. Eine Telefonzelle gibt es gar nicht erst. „Wir trommeln immer noch“, sagt Ruth Hartwig-Kruse und grinst. „Oder wir machen Rauchzeichen.“ Tatsächlich betreibt die Halligbewohnerin eine Facebookseite für Nordstrandischmoor. Fotos von jungen Seeschwalben auf den Salzwiesen und von Sonnenuntergängen über dem Meer postet sie hier. Mehr als 1700 „Gefällt-mir“-Angaben hat sie damit schon gesammelt. Von Nordseeliebhabern und Wattwanderern, von Nachbarn und von Urlaubern, die die Hallig immer mal wieder besuchen. In den fünf Ferienwohnungen auf Nordstrandischmoor haben 16 Gäste Platz. Statistiken von Übernachtungszahlen gibt es aber nicht. Auch keinen Supermarkt. Und kaum Bäume. Nur Abgeschiedenheit – und ganz viel Meer.