Mama
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Ein feiner Zug

Ein feiner Zug: Das Kleinkindabteil im ICE der Deutschen Bahn. (Foto: Julia Marre)

Nein, pessimistisch bin ich nicht. Aber: Wenn ich an Zugfahrten und Kleinkinder denke, sehe ich brüllende Babys vor mir, verzweifelte Mütter und Großraumwagen voll genervter Fahrgäste. Das habe ich nämlich oft erlebt. Kein Wunder also, dass ich meiner ersten siebenstündigen Zugfahrt allein mit kleinem Kind und großem Gepäck entgegengezittert habe. Protokoll eines Reisetages, der zum Glück ganz anders war: Ein feiner Zug.


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  • 9.05 Uhr: Der Inter Regio fährt los. Pünktlich. Mein Gepäck reicht nicht nur für mehrere Stunden, sondern auch für eine Himalaya-Expedition. Unser Proviant sowieso.
  • 9.09 Uhr: Die von außen so bunt beworbene Kinderspielecke im alten Waggon entpuppt sich als normaler Sitzplatz mit lustigen Fensteraufklebern. Soso. Ist aber auch nicht schlimm: Unsere Karre ist zu breit für die Schwingtüren, ich muss mit Wagen und Kind vorne beim Lokführer sitzenbleiben und die Karre mitten im Weg parken.
  • 9.17 Uhr: Nora ist erfahren, was Transportmittel angeht. Sie kennt Busse, U- und S-Bahnen, Fähren, Autos, Züge, sogar Schwebe- und Zahnradbahnen aus Freizeitparks. Trotzdem schaut sie sich erstmal sehr skeptisch um, als ich ihr auf dem Sitz die Jacke ausziehe.
  • 9.19 Uhr: Der erste Bauklotz fliegt durch den Zug. Wo ist er denn nur hin? Und wie komme ich nur wieder an den heran, ohne meine Tochter im ruckelnden Interregio loslassen zu müssen?! Schwierige Kiste…
  • 9.38 Uhr: Bevor wir gleich das erste Mal umsteigen, störe ich schon mal den Teenie gegenüber beim Musikhören und frage, ob er mir gleich hilft. „Ja, kein Problem.“ Wunderbar. Ein feiner Zug. Läuft bei mir.
  • 9.50 Uhr: Der Teenie war doch schneller als ich. Der Lokführer packt höchstpersönlich mit an. „Ich hoffe, Sie haben Ihr Kind angeschnallt, damit es nicht aus dem Wagen fällt!“, sagt er. „Haben wir nämlich alles schon erlebt…“ Autsch!
  • 9.55 Uhr: Sonne auf dem Bahnsteig. Und Sauerstoff, wie schön. Wir müssen uns nur umdrehen und stehen schon am richtigen Gleis. Der nächste Interregio rumpelt heran.
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  • 10.20 Uhr: Ein älterer Herr, der beim Hineintragen geholfen hat, versucht vehement, mit Nora zu flirten. Sie mag nicht. Spielen möchte sie auch nicht. Sie schläft einfach ein im klimatisierten Fahrradwaggon. Ich lehne müde am Lenker der Karre und döse auf den unkomfortabelsten Sitzen des Tages. Noch ahne ich nicht, dass diese 30 Minuten Schlaf meine einzige Pause am Reisetag sein sollen…
  • 10.25 Uhr: Der kleine Hunger kommt. Wo zur Hölle habe ich den Sixpack Snickers versteckt???
  • 10.50 Uhr: Das zweite Mal umsteigen. Endlich geht’s in einen Intercity. Ein feiner Zug. Als der in den Bahnhof rauscht, wacht Nora wieder auf. Der Schaffner mault: „Hier ist kein Kinderwagenabteil. Das ist da hinten.“ Ich marschiere also einen Wagen weiter, nur um dort zu warten, bis er mir schließlich doch beim Einsteigen hilft.
  • 10.55 Uhr: Erkenntnis: IC-Kleinkindabteile sind mehr Schein als Sein. Trotz der reservierten Plätze ist wenig Platz, der Wagen passt nicht und muss am Gang festgeschnallt werden. Weiterschlafen wird so nichts. Die Sitznachbarn haben so viel Gepäck wie ich, das genau da steht, wo Nora hätte spielen können…
  • 11.20 Uhr: Nach gegenseitigem Beschnuppern ist das Eis im Abteil gebrochen. Der mittelalte Herr gegenüber erzählt die üblichen verdächtigen „Also-als-unser-Sohn-klein-war…“-Geschichten. Volltreffer!
  • 11.54 Uhr: Nora löffelt seit 20 Minuten ihre Lieblingsnudeln. Und die ältere Dame auf dem Fensterplatz entpuppt sich als Besserwisserin. „Jetzt hat sie aber genug. Also Ihre Tochter ist ja schon völlig übersättigt“, erklärt sie mir, während Nora natürlich gar nicht daran denkt, mit dem Essen aufzuhören.
  • 12.17 Uhr: Gleich wieder umsteigen. Ein junger Vater hat seine Karre direkt neben meiner Karre geparkt. Es ist sehr eng im Gang. Der Zug endet hier und fährt schon langsamer. Eine Schäferhundbesitzerin erzählt allen Wartenden, die es wissen und nicht wissen möchten, von Langstreckenflügen mit British Airways und Hund auf dem Schoß. Daran will ich gar nicht denken.
  • 12.21 Uhr: Wir haben es aus dem IC geschafft. Warum nur sind die Aufzüge an Bahnsteigen oft so weit außerhalb? Nach 500 Metern Sprint hole ich den jungen Vater samt Karre ein und wir schieben uns in den Fahrstuhl nach unten.
  • 12.23 Uhr: Ich würde sooo gern zur Toilette gehen. Die ist am Nürnberger Hauptbahnhof aber im ersten Stock, sagt mir ein Bahnangestellter. Mit Kinderwagen und meinem Expeditionsgepäck viel zu weit, um sie in der Aufenthaltszeit besuchen zu können. Schade…
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  • 12.34 Uhr:  Quizfrage: Was macht man am menschenleeren Abschnitt A eines Bahnsteiges, wenn niemand weit und breit zu sehen ist, man aber mit Kinderwagen in den Zug einsteigen möchte? Antwort: Man wartet. Irgendwann kommt ein Mitarbeiter der Bahn bestimmt. Oder ein verspäteter Fahrgast. Mein Glück.
  • 12.37 Uhr: Habe das Kleinkindabteil im ICE gefunden. Unsere reservierten Plätze sind besetzt, aber andere sind noch frei. Mit drei Wagen, vier Erwachsenen und drei Kindern ist es schon ganz schön eng. Ein Vater hilft mir mit dem Gepäck, das ich niemals alleine auf die Ablage hätte hieven können. Ein feiner Zug.
  • 12.39 Uhr: „Sehr geehrte Fahrgäste….“ – der Zugführer erklärt, dass es nicht weitergeht. Ein Güterzug versperrt den Weg. 25 Minuten Zwangspause auf halber Strecke.
  • 13.16 Uhr: Eine hochschwangere Mutter mit zweijährigem Kind steigt dazu. Nun sind wir 9 Leute auf 8 Sitzen, neben denen vier Wagen parken. Man kommt kaum zur Tür. An Platz zum Spielen ist nicht mehr zu denken. Und ich verstehe allmählich, was der Begriff Kleinkindabteil heißt: andere schreiende Kinder tolerieren. Und ertragen, dass meine Tochter vier Stunden lang auf mir rumspringt. Und dass alle hier irgendwann schlafen außer Nora. Sie lässt sich vom zweijährigen Hipsterkind im Karohemd ihr Spielzeug wegnehmen. Warum bin ich hier denn auch die einzige Mutter, die Spielzeug eingepackt hat?! Als Revanche futtert sie dem Hipster die Weintrauben weg. Richtig so!
  • 14.23 Uhr: Trotz der Enge ist die Stimmung gut. Vanessa aus Wolfenbüttel stillt ihre Tochter. Hipsterkind Maxim spendiert Obsthäppchen. Eine defekte Plastikgiraffe singt im Koffer von Mama Inka in Dauerschleife. „Die hat irgendwie einen Wackelkontakt“, sagt sie. Wir nehmen’s gelassen. Ich erzähle vom nervigen Musikwürfel, den ich noch im Rucksack vor Mona versteckt habe. „Aber keine Angst: Ihr seid ja alle ganz angenehme Zeitgenossen, ich verschone euch“, sage ich gönnerhaft und wir lachen.
  • 15.11 Uhr: Der Schaffner berät uns ausführlich wegen neuer Anschlusszüge, die uns die Verspätung beschert hat. Die Kinder staunen in der Zwischenzeit über seinen Kartenscanner, der rot und grün leuchten kann. „Tatüü tataaa“, kommentiert die kleine Sofia das flackernde Licht.
  • 15.57 Uhr: Verspätet, verschwitzt und erschöpft erreichen wir unser Ziel. Nach sieben Stunden Fahrt, die anstrengend waren, aber doch wesentlich unkomplizierter und kurzweiliger, als ich befürchtet hatte. „Thank you for choosing Deutsche Bahn“ – der Lokführer holpert im unbeholfenen Schul-Englisch seinen Abschiedsslogan durch die Lautsprecher. Wieder einmal hilft gerne jemand beim Ausladen meiner noch immer gut gelaunten Fracht. Ein feiner Zug. Doch kaum schiebe ich die Karre aus dem Hauptbahnhof, schließt Nora ihre Augen und schläft ein. Das würde ich jetzt auch gern machen…

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