Als „Il Poeta“ war Gerhart Hauptmann Anfang des 20. Jahrhunderts in Ligurien bekannt: An der italienischen Riviera hat der Literaturnobelpreisträger viele Winter verbracht. Oft blieb er monatelang in Portofino, Rapallo oder Sestri Levante. Was hat ihm die Inspiration unter Palmen verschafft? Und was erinnert heute noch an ihn? Ein Besuch an Orten, die den Dramatiker prägten.
Rapallo. Schon seit Stunden lacht die Sonne vom Himmel. Die drei Signore lachen zurück. Sie sitzen an der Promenadenstraße Vittoria Veneto auf einer Bank. Viel zu erzählen hat der Altherrenstammtisch heute nicht. Es ist kaum etwas los im frühlingshaften Rapallo. Gemütlich schwappt das Mittelmeerwasser auf die Steinbrocken unterhalb der Promenade, dass es klatscht. Wieder und wieder. Leise rauscht das Grün der Palmen. Durch die sonst so beliebten Urlaubsorte an der ligurischen Küste weht ein Hauch von Mattheit. Alles steht auf Pause. Die Riviera schlummert ihren kurzen Winterschlaf. Sogar die farbenfrohen Markisen der Belle-Époque-Cafés an der Straße dösen noch, obwohl es schon Mittag ist.
Inspiration unter Palmen
Es ist eine Stimmung – so sonnig und warm und ruhig – die Gerhart Hauptmann geliebt hat. „Die Ortsveränderung ist mir eine Voraussetzung geistigen Schaffens“, befand er. Der Literaturnobelpreisträger hat öfter und länger in Italien gelebt als nahezu alle anderen großen Deutschen. Winter für Winter reiste er nach Ligurien, immer dem Frühling auf der Fährte. Viele seiner Biografen haben deshalb den Taschenrechner gezückt: Elf Jahre soll Hauptmann während seiner 83 Lebensjahre in Italien verbracht haben, addiert man all seine Aufenthalte – von der ersten Bildungsreise 1883 bis hin zum temporären Umzug samt Personal. Als „Il Poeta“ war der Schriftsteller an der Riviera bekannt. Monatelang blieb er an der Küste, ließ sich inspirieren, arbeitete und war beliebt für prominent besetzte Abendunterhaltungen: Ausgewählten Gästen trug er seine Textentwürfe vor.
„Diese ganze ungeheure alte Kultur!“
Eines seiner liebsten Ziele war Rapallo. Hauptmann faszinierte in Italien „diese ganze ungeheure alte Kultur, gegen welche die unsre jung und oft kindisch ist“. Zur ungeheuer alten Kultur zählt in Rapallo die trutzige Burg aus dem Jahr 1550. Mitten in der Bucht reckt sie ihren eckigen Turm in den Himmel. Auf ihm zappelt die Landesflagge im Wind. Wie ein steinerner Klotz steht sie auf dem Fels, inmitten der von Pinien und Palmen begrünten Bucht. Erst war sie Wohnsitz des städtischen Kapitäns, später Gefängnis, heute ist sie ein Ausstellungsort. In den 1930er Jahren, als Hauptmann im eleganten „Hotel Excelsior“ lebte, konnte er von der Dachterrasse aus die Berge, das Meer und die Burg sehen. Sein Zimmer wählte er so, dass er nach Osten blickte: entlang der Riviera di Levante. So konnte er bei Sonnenaufgang seinen „Lampion“ begrüßen.
Ein von Säulen gesäumtes Portal an der kurvenreichen Via San Michele rahmt den Eingang des „Excelsior Palace“. Heute ist es eines der letzten imposanten Luxushotels aus der Zeit der Jahrhundertwende. Denn das Küstenstädtchen leidet seit den 1960er Jahren an der „Rapallizzazione“: Maßlos ist das Seebad in der Nachkriegszeit bebaut worden. Hier ein Apartmentkomplex, dort ein Hochhaus mit Ferienwohnungen – um viel Platz für überwinternde Pensionäre zu schaffen. Hübscher geworden ist Rapallo dadurch keineswegs. Doch vom Charme des einst so mondänen Ferienortes berichten so manche Hausfassade und so manches Café.
Wer der Via San Michele auf die Halbinsel folgt, der gelangt auf einer malerischen Route nach Portofino. In den Ferienort des italienischen Jetset. Während der Hochsaison ist die schmale Küstenstraße verstopft – der Fischerort ist nämlich eine einzige Sackgasse. Und zwar eine wunderschöne. Busse hupen und rangieren, Wagenkolonnen kriechen über den warmen Asphalt. Mittendurch mogeln sich die Roller. Und immer wieder schieben sich Wanderer durch das Gewusel. Auf sie warten 70 Kilometer lange Wanderwege durch den Naturpark Portofino. Schneller am Ziel als ihre motorisierten Mitstreiter sind sie sowieso. Günstiger kommen sie auch weg: Denn Portofino hat die teuersten Parkplätze in ganz Italien – ein Stellplatz kostet in der Stunde 5,50 Euro. Dennoch sind die kleinen Ristorante und Trattorias entlang der Hafen-Arkaden im Frühling, im Sommer und im Herbst überfüllt. Gelb, Rot, Rosa und Weiß leuchten die schmalen, hohen Fischerhäuser in der Sonne. Viele der grünen Fensterläden sind geschlossen. So laut hallen Stimmengewirr, Besteckklappern und Schiffsmotorengeröhr, dass nicht einmal das Schreien der Möwen zu hören ist. Alles ist dicht gedrängt. Überall. Die Gehwege. Die Piazzetta. Und die Souvenirläden. Im engen Hafenbecken funkeln haushohe Luxusyachten der VIPs. Idylle sieht anders aus.
Arbeiten, wo Frank Sinatra und Truman Capote Urlaub machten
Seit 1909 verbrachte Hauptmann mehrere Winter in Portofino. Im Dezember 1912 hatte er soeben den Nobelpreis erhalten, da sehnte er sich nach Italien. „Doch ich liebe […] dieses Fiebrige von Berlin nicht und fliehe lieber, fliehe hierhin in Ihr schönes Portofino, auf der Suche nach Ruhe und Einsamkeit“, gestand er einem Journalisten. In Portofino war er zu Gast in der Festung San Giorgio. Hoch auf dem Berg thront das alte Gemäuer, inmitten eines malerischen Landschaftsparks. Weit geöffnet sind die ockerfarbenen Fensterläden des Bauwerks aus dem 16. Jahrhundert, das so vieles zu erzählen hat. Schon Napoleon nutzte es aus strategischen Gründen. Bekannt ist die Festung als Castello Brown, benannt nach einem späteren Besitzer: dem britannischen Konsul von Genua, Sir Yeats Brown. Er machte Ende des 19. Jahrhunderts alles, was Rang und Namen hatte, auf den Ort aufmerksam. Sogar Kaiser Wilhelm verbrachte hier seinen Urlaub. Und weil Portofino ab den 1950ern zum wohl beliebtesten Ferienort Hollywoods geworden ist, besuchten das Schloss zig berühmte Gäste, darunter Clark Gable, Humphrey Bogart, Brigitte Bardot, Frank Sinatra, Elisabeth Taylor oder Truman Capote.
Wer am Hafen den steilen, aber stufenlosen Pfad zur Kirche San Giorgio und zum Castello Brown hinaufkraxelt, der entkommt dem Trubel. An Wäscheleinen flattern weiße, bestickte Tischdecken und geklöppelte Kissenbezüge. Winzige Handarbeitsläden zeigen ihre Produkte. Das Spitzenklöppeln hat eine lange Tradition an der ligurischen Küste: Es war der liebste Zeitvertreib der Fischersfrauen. Und die hatten bekanntlich viel Zeit.
Nicht weit hinter dem Castello Brown liegt an der Steilküste die sagenumwobene Villa Altachiara. Im viktorianischen Stil errichtet hat sie der Ägyptologe Lord Carnarvon; sein Sohn entdeckte 1922 das Grab des Tutanchamun. Heute ist die Villa ein Palast mit mehr als 30 Zimmern. Eigenem Park. Und natürlich einem Pool. Ein Fluch soll auf dem Haus liegen, munkelt man in Portofino. Doch Hauptmann kam vor den Gerüchten: 1913 genoss er hier den weiten Blick übers Meer, frönte seinem Sonnenkult und notierte: „Die Schönheit der Erde ist hier, an einem Tage wie heute, fast zu erregend.“ Den Winter zuvor hatte er im Castello Paraggi verbracht. Abgeschirmt durch ein baumhohes Tor liegt das Anwesen an der schmalen Uferstraße, die sich zurück nach Rapallo schlängelt. Unten im blautürkisfarbenen Meer ankert eine gewaltige Yacht. Mehrgeschossig und blankpoliert wippt sie auf den Wellen. Das Meer rauscht und schäumt und spritzt über die Felsen, auf denen die genuesische Küstenfestung steht. Hier empfing Hauptmann so berühmte Gäste wie Siegfried Wagner. Heute gehört einem der Söhne Berlusconis die Villa. Italiens ehemaliger Ministerpräsident soll hier regelmäßig baden gehen. Ob von der warmen Hauptsaison auch die drei Signore träumen, die noch immer in Rapallo auf ihrer Bank verschnaufen? Ihr Wunsch in der Wintersonne ist vermutlich nur einer: dass es noch lange ruhig bleibt.